Der einstige Wachstumsmotor Europas dürfte als einzige große Volkswirtschaft im Jahr 2023 schrumpfen. Deutschlands Exportmaschine stottert, der Wohnungsbau bricht ein und viele Wähler sind unzufrieden, während sich Unternehmen über zu hohe Energiekosten, steigende regulatorische Belastungen und einen unklaren Kurs der Wirtschaftspolitik beklagen. Einige Beobachter bezeichnen Deutschland sogar wieder als „kranken Mann Europas“. Dieses Etikett hatte ich 1998 erstmals eingeführt, als das Land wirklich auf ernste Schwierigkeiten zusteuerte.
Vom „goldenen Jahrzehnt“ zum Mittelmaß:
Deutschland steht vor großen Herausforderungen, die vom Arbeitskräftemangel über veraltete bürokratische Verfahren bis hin zu einer teils verfehlten Energiepolitik reichen. Aber die derzeitige Welle des Pessimismus ist weit übertrieben. Natürlich ist das „goldene Jahrzehnt“, das ich 2010 in einer Berenberg-Studie aufgrund des Erfolgs der Agenda-2010-Reformen vorausgesagt hatte, vorbei. Die Politik hat sich – wie zu befürchten war – zu lange auf dem Erfolg ausgeruht. Zudem haben neue Schocks die Wirtschaft erschüttert. Deutschland hat deshalb an Boden verloren. Aber sein Wachstumspotenzial liegt weiterhin in etwa im europäischen Durchschnitt.
Zwei Fehler: Viele Beobachter machen angesichts des deutschen Abschwungs zwei Fehler: (i) Sie unterscheiden nicht zwischen kurzfristigen Schwankungen, die durch äußere Schocks oder einen Rückgang der globalen Nachfrage verursacht werden, und dem längerfristigen Trend, der von der inländischen Angebotspolitik geprägt wird. Die Konjunktur wird voraussichtlich im Frühjahr 2024 wieder anziehen. (ii) Sie missverstehen das Wesen der deutschen Wirtschaft. Ihr Hauptmerkmal ist nicht die Spezialisierung auf bestimmte Produkte wie Autos oder Chemikalien, sondern die Vielzahl an „Hidden Champions“, die immer wieder in der Lage sind, sich an schwerwiegende Schocks und Herausforderungen anzupassen – wenn die Politik ihnen nicht in die Quere kommt.
Zwei große Unterschiede: Die heutige Situation in Deutschland unterscheidet sich deutlich von der strukturellen Malaise der Jahre 1995-2004. Erstens erfreut sich Deutschland einer Rekordbeschäftigung (siehe Abbildung 1), einer hohen Nachfrage nach Arbeitskräften und der komfortabelsten Haushaltslage aller großen Volkswirtschaften. Das macht es viel einfacher, sich an Schocks anzupassen. Selbst ein beschleunigter Strukturwandel im Zuge der Energiewende muss nicht zu erheblicher Arbeitslosigkeit führen. Zweitens ist die Regierung bereits dabei, einige wichtige Probleme anzugehen, wie den Arbeitskräftemangel und die langen Genehmigungsverfahren, die öffentliche und private Investitionen behindern. Der derzeitige Abschwung könnte als Weckruf dienen und weitere Reformen auslösen.
Vorschläge für Reformen: Angesichts der noch immer hohen Nachfrage nach Arbeitskräften braucht Deutschland kein schuldenfinanziertes Konjunkturprogramm. Vielmehr sollte es sein Angebotspotenzial stärken. Oberste Prioritäten sollten sein: (i) die Unsicherheit über die zukünftige Energiepolitik zu beenden; (ii) die Verwaltungskapazität der Bürokratie zu stärken; (iii) Planungs- und Genehmigungsprozesse zu beschleunigen, um Investitionen freizusetzen; und (iv) Anreize zu schaffen, mehr und länger zu arbeiten – beispielsweise durch die weitgehende Abschaffung der Einkommensteuer auf Arbeitseinkommen über das gesetzliche Rentenalter hinaus. Weitere Details und Ideen auf den Seiten 12–16.