Neben den Menschen in der Ukraine dürfte vor allem Russland der große Verlierer sein. Auf Dauer wird ein zunehmend isoliertes Russland langsam verarmen und sich sein großes Militär und seine imperialen Ambitionen und seinen ausufernden Apparat zur Unterdrückung der eigenen Bevölkerung nicht mehr leisten können. Für andere Teile Europas werden sich nach einem zeitlich begrenzten Rückschlag für die Konjunktur und einem ebenso zeitlich begrenzten Anstieg der Inflation die Schäden in Grenzen halten. Allerdings könnten die Menschen in ärmeren Ländern der Welt, die sich in den kommenden Monaten die höheren Energie- und Nahrungsmittelpreise anders als das reiche Europa nicht leisten können, hart getroffen werden. Diesen Schock einzugrenzen gehört zu den großen Aufgaben der internationalen Wirtschaftspolitik.
Folgen für die europäische Konjunktur
Die russische Invasion der Ukraine und der daraus resultierende Anstieg der Preise für Energie, Nahrungsmittel und wichtige Metalle versetzen der europäischen Wirtschaft kurzfristig einen kräftigen Dämpfer. Der Kostenschock sowie neue Lieferengpässe bremsen die Konjunktur und treiben die Inflation in den kommenden Monaten weiter in die Höhe, möglicherweise kurzfristig auf über 7 %. Für das Gesamtjahr 2022 rechnen wir jetzt mit einem Preisauftrieb von 6,1 % für die Eurozone und 5,6 % für Deutschland. 2023 dürfte sich die Inflation bei wieder leicht sinkenden Energie- und Nahrungsmittelpreisen dann bei etwa 2,5 % einpendeln.
Europa droht jetzt für einige Monate Stagflation. Der Russland-Schock dürfte zunächst die positiven Impulse der auslaufenden Maßnahmen zum Eindämmen der Corona-Pandemie ausgleichen. Für das Jahr 2022 haben wir deshalb unsere Wachstumsprognosen für die gesamte Eurozone um 1,1 Prozentpunkte auf 3,2 % gesenkt, für Deutschland um einen Prozentpunkt auf 2,8 % und für Großbritannien um 0,8 Prozentpunkte auf 4,0 %.
Hinter unseren Prognosen steckt die Annahme, dass die derzeit außergewöhnlich ausgeprägte Unsicherheit in etwa zwei Monaten nachlassen wird. Keine der beiden Seiten kann sich vermutlich einen so intensiv wie derzeit geführten Krieg über längere Zeit leisten. Sollte sich die Lage zumindest ansatzweise klären – und sollten die Energiepreise bis dahin ihren Höhepunkt überschritten haben – kann die Konjunktur dann ab Mai oder Juni wieder Tritt fassen. Für den Sommer erwarten wir zudem eine Rückkehr der Touristen an die Strände des Mittelmeeres. Nachdem dort im vergangenen Jahr nur etwa halb so viele Touristen wie vor der Pandemie üblich Urlaub gemacht haben, kann eine normale Reisesaison gerade für Südeuropa einen merklichen Wachstumsbeitrag leisten.
Der kräftige Anstieg der Energie- und Nahrungsmittelpreise schmälert zwar die Kaufkraft der Bürger. Aber die meisten Verbraucher haben während der Pandemie wesentlich mehr Geld gespart als üblich. Diese Zusatzersparnisse über die übliche Sparquote hinaus entsprechen in der Eurozone etwa 13 % der normalen Jahresausgaben des durchschnittlichen Verbrauchers. Auch nach Abzug der höheren Kosten für Energie und Nahrungsmittel stehen die meisten Verbraucher deshalb finanziell weiterhin besser da als vor der Pandemie. Nach dem Abflauen des ersten Schocks, den Putins brutaler Angriffskrieg und der Anstieg vieler Preise derzeit auslösen, werden die Verbraucher vermutlich wieder mehr Geld ausgeben. Auch Unternehmen wollen mehr investieren, um angesichts voller Auftragsbücher ihre Kapazitäten auszuweiten und ihre Lieferketten krisenfester umzustrukturieren. Zudem werden zusätzliche Staatsausgaben für Verteidigung und eine Abkehr von fossilen Energierohstoffen aus Russland zur Nachfrage beitragen.
Wenn der Konflikt nicht noch weiter eskaliert – selbst die Sowjetunion vermied eine direkte militärische Auseinandersetzung mit NATO-Staaten – und sich die Lage ab Mai langsam klärt, kann die europäische Konjunktur danach wieder auf einen kräftigen Expansionspfad zurückkehren. Neben der aufgestauten Kaufkraft spricht die geringe und weiter abnehmende Arbeitslosigkeit in der Eurozone für einen robusten privaten Konsum. Aufgrund der zu erwartenden Nachholeffekte nach dem aktuellen Dämpfer haben wir unsere BIP-Prognosen für die Eurozone, Deutschland und Großbritannien um je 0,3 Prozentpunkte für 2023 angehoben. Dazu dürfte beitragen, dass vermutlich die Energiepreise in einigen Monaten wieder langsam sinken werden.
Für unsere Prognosen rechnen wir mit einem Ölpreis von 90 $ pro Fass der Marke Brent ab Anfang 2023. Sollte der Ölpreis dagegen weiter steigen und sich bei 150 $ einpendeln, müssten wir unsere Inflationsprognosen weiter anheben, beispielsweise von 5 % für Ende 2022 auf knapp 7 % für Deutschland und die Eurozone. Die Folgen könnten ähnlich sein, wenn Europa sofort und schlagartig seinen gesamten Bezug von Erdgas aus Russland einstellen würde. In solchen Risikoszenarien würde auch die Konjunktur bis weit ins Jahr 2023 hinein erheblich leiden. Kurzfristig wäre dann sogar eine spürbare Rezession möglich.
Ob es sinnvoll wäre, diesen Preis zu zahlen, um die russische Wirtschaft schneller und stärker zu schwächen, ist letztlich eine politische Ermessensfrage. Die deutsche und europäische Wirtschaft würde es – nach einem kurzen Rückschlag – durchaus überstehen. Die Kosten würden teils im Staatshaushalt sichtbar, da der Staat einkommensschwächeren Haushalten die Verluste weitgehend ausgleichen müsste. Gerade Deutschland könnte sich das leisten.
Langfristige Folgen für die europäische Wirtschaft
Die militärische Lage dürfte sich so oder so in einigen Monaten klären. Sofern die Energiepreise nicht immer weiter ins Unermessliche steigen, wird auch die Inflation sich wieder beruhigen. Selbst bei einem weitgehenden Ausfall Russlands als Lieferant von Erdöl, Erdgas und Kohle werden die Märkte ein neues Gleichgewicht finden mit Sparmaßnahmen bei den Verbrauchern und einem erhöhten Angebot aus anderen Ländern, beispielsweise durch intensiveres Fracking in den USA. Damit wird die Inflation sich wieder auf normale Werte von vermutlich etwas über 2 % zurückbilden.
Dennoch dürfte der Putin-Schock langfristige Wirkung haben. Um nicht noch einmal in eine solch missliche Lage zu geraten, wird Europa seine Energiewende forcieren. Auch wenn zunächst wieder mehr Kohle und – außerhalb Deutschlands – mehr Nuklearenergie genutzt werden muss, dürften erneuerbare Energien – und Wasserstoff als sauberer Energiespeicher – eine immer größere Rolle spielen.
Zusätzliche Ausgaben für Verteidigung und die Energiewende tragen zwar zur Nachfrage bei. Sie binden aber auch Ressourcen, beispielsweise knappe Arbeitskräfte, die sonst anders eingesetzt worden wären. Damit kann das Trendwachstum sich etwas verlangsamen. Dieser Effekt könnte allerdings weitgehend ausgeglichen werden, wenn es als Folge der rascheren Energiewende in diesem Sektor zu einem Innovationsschub kommt und Europa seine energiesparenden Technologien dann gewinnbringend auf dem Weltmarkt verkaufen kann.
EZB: Zinswende im Dezember möglich
Die Europäische Zentralbank (EZB) gerät durch den konjunkturellen Rücksetzer in eine missliche Lage. Der Kampf gegen die hohe Inflation erfordert prinzipiell eine straffere Geldpolitik, um die Inflationserwartungen im Zaum zu halten. Gleichzeitig würde eine deutlich straffere Geldpolitik aber die Stagnation der Wirtschaft verfestigen. Haushalten und Unternehmen neben höheren Energiepreisen auch noch höhere Kreditkosten aufzubürden, würde die Konjunktur und den Staatshaushalt zusätzlich belasten. Zudem sind Putins Invasion der Ukraine und die Folgen für die Energie- und Nahrungsmittelpreise ein Angebotsschock, gegen den eine Zentralbank letztlich nichts ausrichten kann. Sie kann mit ihren Instrumenten ja nur die gesamtwirtschaftliche Nachfrage beeinflussen, aber nicht das Angebot.
Die EZB fährt in dieser Gemengelage zu Recht vorerst „auf Sicht“. Auf der geldpolitischen Sitzung am vergangenen Donnerstag (10. März) hat sie die Leitzinsen unverändert belassen, aber die Tür für eine Zinserhöhung schon Ende dieses Jahres ein wenig geöffnet. Sie hat aber (noch) nicht angedeutet, dass sie einen solchen Schritt bereits für wahrscheinlich hält. Die EZB will die Zinsen erst „einige Zeit“ nach dem Auslaufen ihrer Nettokäufe von Anleihen anheben. Da sie die Anleihekäufe im zweiten Quartal schneller zurückführen und im dritten Quartal je nach Datenlage vermutlich einstellen wird, ist eine Zinserhöhung noch in diesem Jahr zumindest möglich geworden. Wir bleiben bei unserer Vorhersage, dass die EZB – nach einem Wiederanspringen der Konjunktur im Sommer – ihre Leitzinsen im Dezember um 0,25 Prozentpunkte heraufsetzen wird. Wir hielten das für angemessen.
Politische Folgen des Krieges
Die Ukraine kämpft auch für uns: Die freie Welt scheint in diesen Wochen wie selten zuvor an einem Strang zu ziehen. Die Ukrainer verteidigen die freie Welt und nicht nur ihren eigenen, nicht zur NATO gehörenden Teil Europas. Wladimir Putin hat die Ukraine unterschätzt. Er dürfte ein Opfer seiner eigenen anti-ukrainischen Propaganda geworden sein. Je stärker die Ukrainer gegen Putins Invasion Widerstand leisten, desto mehr schwächen sie dessen Fähigkeit, in Zukunft weitere Kriege zu führen.
Putin in der Sackgasse: Die entschlossene ukrainische Verteidigung und die Brutalität des russischen Angriffs machen es Putin fast unmöglich, in Kiew ein Marionettenregime zu errichten, das eine effektive Kontrolle ausüben könnte über ein Land mit einer überwiegend feindseligen Bevölkerung. Die Ukraine kann nicht in eine größere Version von Weißrussland verwandelt werden – einen russischen Vasallenstaat, in dem Putin im letzten Jahr lediglich das etablierte repressive Regime von Alexander Lukaschenko stützen musste, um ihn an der Macht zu halten.
Russland auf dem Weg in den Ruin: Schon vor dem Krieg hatte Russland einige Züge einer Petroökonomie nach sowjetischem Vorbild angenommen, mit einem überdimensionierten Militärsektor und letztlich unbezahlbaren imperialen Ambitionen. Russland fällt bereits seit 2014 langsam immer weiter hinter die westliche Welt zurück. Die Kosten des Krieges, der zunehmenden Unterdrückung im eigenen Land und der überraschend harten westlichen Sanktionen werden den wirtschaftlichen Niedergang Russlands jetzt wahrscheinlich noch viel stärker und schneller beschleunigen, als die kostspielige Besetzung Afghanistans zur Erosion der sowjetischen Macht in den 1980er Jahren beigetragen hatte.
Nach Putin: Russland kehrt nach Europa zurück: Die russische Geschichte bewegt sich in Zyklen – von einer Öffnung nach Europa hin zur Selbstisolation und zurück. Der Schaden, den Putin seinem eigenen Land zufügt, erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass sich Russland nach Putin wieder auf Europa zubewegen wird – wann immer das sein mag.
Die freie Welt hält zusammen: Demokratien können langsam sein. Ihre politischen Prozesse sind mühsam. Aber wenn Demokratien mit einer ernsthaften Herausforderung konfrontiert sind, können sie stark und effektiv reagieren, weil diese Entscheidungen dann oft von einem breiten gesellschaftlichen Konsens gestützt werden. Die historische Dreifach-Kehrtwende Deutschlands ist ein klares Beispiel dafür. Als es nach der russischen Invasion der Ukraine darauf ankam, hat Deutschland seine Nachkriegstradition aufgegeben, sein politisches Gewicht unter den Scheffel zu stellen und fast ausschließlich in wirtschaftlichen, statt in geopolitischen Kategorien zu denken. Mit seiner energischen Reaktion auf Putin hat Deutschland wieder den Anschluss an seine Verbündeten gefunden. Diese Entscheidung kam spät. Aber da sie offenbar einen neuen deutschen Konsens widerspiegelt, scheint sie von Dauer zu sein. In kleinerem Rahmen hat sogar Ungarns Viktor Orban, bisher einer der Putin-freundlichsten Regierungschefs innerhalb der EU, eine bemerkenswerte Wende hingelegt. Er hat zugesagt, alle europäischen Sanktionen gegen Russland zu unterstützen.
Deutschland geht voran, statt immer nur zu bremsen: Die außenpolitische Kehrtwende Deutschlands kann auch Folgen für die Fiskal- und Wirtschaftspolitik in Europa und der Eurozone haben. In den letzten Jahren hat Deutschland bereits an Bedingungen geknüpfte Rettungspakete für fiskalisch angeschlagene Euro-Mitglieder und ein 750 Milliarden Euro schweres EU-Pandemieprogramm unterstützt. Berlin hat sich mit einer flexiblen Auslegung der Haushaltsregeln in Europa und im eigenen Land arrangiert. Gemeinsame Krisenreaktionen der EU bzw. der Eurozone könnten zur Norm werden. Mehr Militärausgaben in Deutschland könnten ein weiterer Schritt zu einer noch flexibleren Auslegung der Haushaltsregeln in der Eurozone und in Deutschland werden. Andere Länder könnten dem deutschen Beispiel folgen und außerbudgetäre Mittel einsetzen, um die Regeln zu umgehen.
Putins Krieg stärkt den Zusammenhalt in Europa. Sein brutaler Angriff auf die freie Ukraine relativiert die üblichen Differenzen zwischen den EU-Mitgliedern. Die Staats- und Regierungschefs Polens und Ungarns zum Beispiel dürften sich nun erneut überlegen, wie weit sie ihre Streitigkeiten mit der EU über Rechtsstaatlichkeit und Korruptionsbekämpfung eskalieren lassen wollen. Ein Abweichen zu weit weg vom EU-Mainstream könnte sonst bei den nächsten Wahlen zur Niederlage führen.
China gehört langfristig zu den Verlierern: Die harte geopolitische Lektion, die Berlin nun gelernt hat, könnte sich auch auf die Politik der EU bzw. Deutschlands gegenüber China auswirken. Der Schwerpunkt könnte künftig weniger auf kurzfristigen wirtschaftlichen Überlegungen und dafür stärker auf längerfristigen strategischen Bewertungen liegen.
Mehr Sicherheit für Taiwan? Der Freiheitskampf der Ukraine und die inzwischen einheitliche Reaktion des Westens könnten die Einschätzung Chinas hinsichtlich der Risiken beeinflussen, die es mit einem Einmarsch in Taiwan eingehen würde. Die überparteiliche Entschlossenheit in den USA, sich gegen kriegerische Aggressionen zu wehren, dürfte für Beijing ebenfalls ein entscheidender Punkt in diesem Kalkül sein. Insgesamt tritt damit das Risiko, dass China in den kommenden Jahren Taiwan angreifen könnte, etwas weiter in den Hintergrund.
China und Russland: kein belastbares Bündnis. China und Putin haben ein klares Interesse an einer engeren Zusammenarbeit. China bereitet dem Westen gerne Probleme und würde Russland wohl gerne allmählich zu seinem willfährigen Juniorpartner machen. Russland kann China längerfristig als großen Alternativmarkt für seine Rohstoffexporte nutzen und als möglichen Partner, um westliche Sanktionen zu umgehen. Doch für beide Länder mit ihrem sehr unterschiedlichen Geschichtsverständnis könnte das Bündnis schwierig und zerbrechlich werden. In China wachsen offenbar bereits jetzt die Bedenken, ob nicht die Rückendeckung für Putin neue Konflikte mit dem Westen heraufbeschwören könnte, die Chinas ohnehin angeschlagene Wirtschaft teuer zu stehen kommen könnte. Sollte es dennoch zu einer Art Bündnis zwischen China und Russland kommen, dürfte diese Allianz das Ende der Ära Putin – wann immer das sein möge – wohl nicht überstehen. Sofern und sobald Russland nach Putin sich wieder Europa zuwendet, dürfte es sich von China abwenden. Auch Chinas Versuche, den Westen zu spalten, sind nun vorerst gescheitert.