Passives Investieren setzt seinen Erfolg ungebrochen fort. Allein im Jahr 2024 verzeichneten passive Anlagen einen globalen Nettozufluss von ca. 1,1 Billionen US-Dollar. So erfreulich die Entwicklung einer stärkeren Aktienkultur und breiten Partizipation an Unternehmensgewinnen auch ist, verweisen immer mehr akademische Studien auf die „Schattenseiten“ von Exchange Traded Funds (ETFs) und Co. Jüngste Studien untermauern, dass Index-Investments die Liquidität bei Einzelaktien reduzieren, die Volatilität von Einzelaktien erhöhen, zu einer höheren Indexkonzentration führen, die Bewertungen in die Höhe treiben und den Markt insgesamt anfälliger für Schocks machen. Diese Befunde decken sich mit unseren eigenen Analysen der letzten Jahre.¹
In dieser Publikation beleuchten wir, was die Umschichtung von aktiven zu passiven Aktienfonds aktuell treibt, was diesen Trend ändern könnte und welche direkten und indirekten Effekte diese Verschiebung auf die Aktienmärkte hat. So hat die Macht der Indexanbieter und der ETF-Gesellschaften deutlich zugelegt und auch die Marktstruktur selbst hat sich verändert. Börsennotierte Unternehmen nutzen das Wissen um nicht-fundamentale Kapitalströme zunehmend für sich, zulasten der ETF- Anleger – etwa, indem sie die aktienbasierte Vergütung ihrer Mitarbeiter bei entsprechenden Zuflüssen von Indexfonds erhöhen. Aktive und flexible Anleger sollten sich das Wissen über die zunehmend ineffizienten Märkte zunutze machen und vor allem Positionierungsdaten stärker in ihre Analysen einbeziehen.
Umschichtung von aktiven zu passiven Fonds hat weiter zugenommen
Die Bedeutung passiver Anlagen wächst, da sie Anlegern eine schnelle, kostengünstige und scheinbar nachteilfreie Investition ermöglichen. Vor allem in den letzten Jahren sahen passive Produkte Zuflüsse, aktive Fonds hingegen Abflüsse (Abb. 1). Neben dem stetigen Zufluss durch 401(k)-Sparpläne (private Altersvorsorge in den USA) – ein Markt, der laut Investment Company Institute immerhin 7,4 Billionen US-Dollar per Ende 2023 groß war – ist dafür auch die mäßige Performance von vielen aktiven Fonds verantwortlich. ETFs machen mittlerweile mehr als 50% des verwalteten Fondsvermögens in den USA aus.
Die vermehrten Umschichtungen der Anleger von aktiven zu passiven Aktienfonds haben Implikationen für die Märkte. Zum einen führt der Aufstieg des passiven Investierens laut der Northeastern University zu einem Anstieg der durchschnittlichen Manager-Fähigkeiten der aktiven Fonds, weil Portfolio Manager, die keine Mehrrendite erzielen, überproportional mit Abflüssen zu kämpfen haben.² Zudem fließt netto mehr Geld in die Aktienmärkte, da ETFs zu 100 Prozent investiert sind, während aktive Fonds häufig eine Kasse von zwei bis fünf Prozent halten, um etwaige +Fondsabflüsse zu bedienen oder auch um trockenes Pulver für etwaige Opportunitäten am Markt bereitzuhalten. Netto fließen also durch den Tausch von aktiv in passiv zwei bis fünf Prozent zusätzlich in den Markt. Da aktive Fonds häufig auch Nicht-Benchmark-Titel als mögliche Alpha-Quellen halten, müssen diese in Folge von Fondsabflüssen reduziert werden, was weiteren Druck auf diese Titel und auf aktive Fonds, die in diese Titel investiert sind, ausübt.
Es entsteht also ein Kreislauf: Aktive Fonds haben Abflüsse, müssen Nicht-Benchmark-Titel und Benchmark-Titel verkaufen, ETFs mit Zuflüssen kaufen hingegen nur Benchmark-Titel – siehe das Beispiel in Abbildung 2. Dies begünstigt eine weitere Underperformance von aktiven Fonds und weitere Abflüsse. Netto treibt dieser Zu- sammenhang die Aktien-Benchmarks und auch deren Bewertungen nach oben – jedenfalls so lange Indexfonds im Aggregat massive Zuflüsse haben.
Zudem erfolgen Käufe in ETF-Sparplänen häufig automatisiert monatlich, unabhängig vom fundamentalen Umfeld. Einen ETF-Sparplan interessieren Zinsen, Inflationsraten oder Bewertungen nicht. Stattdessen kauft er eine festgelegte Summe in einem festgelegten Intervall (z.B. monatlich). Dieser Kreislauf kann nur durchbrochen werden, wenn die Arbeitslosigkeit stark steigt und somit weniger Geld in die private Altersvorsorge via Indexfonds fließt. Oder wenn demographisch eine Umschichtung von Aktien in Anleihen altersbedingt erfolgt. Die Babyboomer, die jetzt in Rente gehen, haben jedoch wenig mit ETFs fürs Alter gespart, da diese erst in der letzten Dekade an Popularität gewonnen haben. Eine aktuelle Umfrage von State Street Global Advisors zeigt, dass Millennials bei der Nutzung von ETFs führend sind.³
58% dieser Generation gaben in den USA an, ETFs in ihren Portfolios zu verwenden, verglichen mit 47% und 37% der Generation X und der Babyboomer-Investoren.
Entsprechend dürfte es noch dauern, bis Aktienmarkt-ETFs im Aggregat substanzielle Abflüsse aufgrund von beispielsweise “Target-Date-Fonds“ haben.⁴ Diese Investmentfonds nehmen eine Asset-Allokation nämlich nicht anhand von fundamentalen Kennzahlen vor, sondern passen ihre Anlagestrategie automatisch an, basierend auf einem festgelegten Zieljahr (z. B. dem Rentenbeginn). Je näher das Zieljahr rückt, desto defensiver wird der Fonds, indem er von risikoreicheren Anlagen wie Aktien zu sichereren wie Anleihen umschichtet. Investiert wird dabei primär in Aktien und Anleihen. Sollte sich daran in Zukunft etwas ändern, könnte dies Druck auf die Aktienbenchmarks ausüben. Würden diese Fonds beispielsweise in Zukunft auch in Gold, Bitcoin, Rohstoffe, Private Credit oder Private Equity investieren, würde dies wohl zulasten der Aktienquote gehen.
Firmen bedienen die höhere Nachfrage nach Aktien durch Indexfonds
Eine interessante Fragestellung vor dem Hintergrund der kontinuierlichen ETF-Zuflüsse ist, wer den ETF-Anbietern eigentlich die Index-Titel verkauft. Eine kürzlich erschienene Studie verweist darauf, dass Unternehmen die wichtigsten Liquiditätsgeber in Form von Mitarbeiteraktienprogrammen oder Wandelanleihen sind.⁵
Die Neigung von Unternehmen, die Gegenseite der Nachfrage von Indexfonds einzunehmen, ist allerdings nicht symmetrisch in Bezug auf Käufe und Verkäufe von Indexfonds. Insbesondere gibt es eine starke Tendenz, dass Unternehmen Aktien bereitstellen, wenn passive Investoren netto Käufer sind, während die Reaktion der Unternehmen gedämpft ist, wenn Indexfonds netto Verkäufer sind. In Quartalen, in denen Indexfonds netto Käufer sind, liegt das Beta laut Studie bei -0,95. Das bedeutet, dass der Markt in diesen Quartalen dadurch ausgeglichen wird, dass Unternehmen Aktien in einem Verhältnis von nahezu eins zu eins bereitstellen. Unterscheidet man nicht zwischen fallenden und steigenden Märkten, so beträgt das Beta -0,64. Das bedeutet, dass Unternehmen im Durchschnitt 0,64 Prozentpunkte der Aktien eines Unternehmens bereitstellen, wenn passive Investoren einen Prozentpunkt der ausstehenden Aktien nachfragen.
Auf die unelastische Nachfrage passiver Fonds nach Aktien reagieren also börsennotierte Unternehmen verstärkt mit Aktienvergütungsprogrammen und geben Aktien aus. Die Indexmitglieder des S&P 500 per Ende 2023 wiesen im Kalenderjahr 2010 eine aktienbasierte Vergütung von 36 Milliarden US-Dollar aus. 13 Jahre später waren es bereits 221 Milliarden US-Dollar, was einem Anstieg von 15 Prozent jährlich entspricht. Rund ein Drittel der aktienbasierten Vergütung stammt dabei mittlerweile von Tech-Unternehmen.
Die Unternehmen nutzen entsprechend vermehrt das Wissen über die nicht-fundamentalen Flows. Jüngst hat beispielsweise ein Vorstandsmitglied von Palantir in einem Tweet frohlockt, dass die Aufnahme seines Unternehmens in den Nasdaq-Index „den Kauf von ETFs in Milliardenhöhe erzwingen dürfte“:
We are moving @PalatirTech to Nasdaq because it will force billions in ETF buying and deliver ‘tendies’ to our retail investors. Player haters be aware that we’ve been hated for decades (plural). Everything we do is to reward and support our retail diamondhands following.
Quelle: Carmen Reinicke (Bloomberg), 18.11.2024, Palantir director deletes X-account after ‘ETF purchase’ post
Allerdings sah er sich nach Absenden des Tweets genötigt, diesen schnell zu löschen – zeigt er doch, wie Unternehmen die Begeisterung für das passive Investieren als Trittbrettfahrer nutzen. Mittlerweile gibt es sogar Investor-Relations-Agenturen wie ModernIR,⁶ die Unternehmen beraten, wie sie von den passiven Flows profitieren können. ModernIR wirbt auf seiner Homepage damit, dass börsennotierte Unternehmen weniger die aktiven Investoren, die mehr Abflüsse als Zuflüsse haben, sondern mehr das passive Kapital im Fokus haben sollten. Folglich sollte der Gewinnberichterstattungszyklus optimiert und die Kapitalallokation neu überdacht werden.
Die größten Profiteure der ETF-Begeisterung sind neben den ETF-Anbietern die Börsenbetreiber bzw. Indexanbieter, die über Lizenzgebühren kräftig am ETF-Boom mitverdienen. Darüber hinaus hat ihre Macht in den letzten Jahren deutlich zugenommen, da sie mit ihren Indexanpassungen über das Wohl und Wehe einzelner Unternehmen entscheiden. Wird ein Unternehmen in einen großen Index aufgenommen, kann es mit starken Zuflüssen und höheren Bewertungen rechnen. Fällt ein Unternehmen aus einem Index heraus, gibt es weniger nicht-fundamentale Nachfrage. Hedgefonds und Arbitrage-Strategien nutzen dieses Wissen für sich aus und kaufen Entry-Kandidaten vor Index-Aufnahme und verkaufen Exit-Kandidaten vor dem Index-Ausschluss. Sie nutzen also den sogenannten Index-Effekt aus, bei dem Aktien, die einem Index hinzugefügt werden, in den Tagen vor der offiziellen Aufnahme positive Überrenditen erzielen, während Aktien, die aus einem Index entfernt werden, negative Überrenditen erzielen. Nach einer Indexanpassung kommt es häufig zumindest kurzfristig zu „Mean-Reverting“-Effekten.⁷ Der „Dumme“ dabei ist nicht selten der Index-Investor, der in Aktien investiert, die vor der Indexaufnahme stark gestiegen sind und häufig zunächst fallen, wenn sie in dem Index aufgenommen worden sind – siehe Tesla (TSLA) versus Apartment Investment & Management Company (AIV) im Dezember 2020. Die Umschichtung im Dezember 2020, bei der AIV aus dem S&P 500 entfernt und TSLA aufgenommen wurde, entsprach diesem Muster auf spektakuläre Weise – nach sechs Monaten hatte AIV gegenüber TSLA einen relativen Renditevorteil von 78 Prozent.
Index-Rebalancierungen sind entsprechend häufig eine Buy-High Sell-Low-Strategie – gut gelaufene, teure Titel werden aufgenommen, schlecht gelaufene, günstige Titel fliegen aus dem Index. Eine Studie vom Juni 2024 hat beispielsweise gezeigt, dass die Einführung eines ETFs für den australischen S&P/ASX 300 Index den Index-Effekt signifikant verstärkt hat, insbesondere beim Hinzufügen von Unternehmen zum Index.⁸ Passive ETF-Flüsse bewirkten eine Zunahme der kumulativen abnormalen Renditen um 5,86% im Zeitraum zwischen der Ankündigung und dem Datum der effektiven Indexänderung im Vergleich zu einem Szenario ohne ETF.
Die Indexkonzentration steigt
Die Indexkonzentration im S&P 500 hat in den letzten Jahren deutlich zugenommen. Die sieben größten Titel machen mittlerweile mehr als 30% des S&P 500 aus. Dies hat fundamentale Gründe. Die größten US-Unternehmen haben allesamt skalierbare Geschäftsmodelle und sind kapitaleffizient. Sie profitieren vom KI-Boom und ihre Gewinne sprudeln. Zudem sind die USA in den vergangenen Jahren deutlich stärker gewachsen als die meisten anderen Volkswirtschaften. Die hohe Indexkonzentration hat aber auch nicht-fundamentale Gründe. Der S&P 500 hat in den USA die mit Abstand höchste passive Durchdringung. Kein Index erfährt mehr nicht-fundamentale Zu- oder Abflüsse. Eine Studie vom Oktober 2024 zeigt beispielsweise eine deutliche Verringerung der Preiselastizität der Nachfrage bei allen Anlegertypen, wobei der passive Investitionsdruck vor allem Aktien mit höherer Marktkapitalisierung betrifft.⁹ Die Ergebnisse deuten darauf hin, dass der Anstieg der passiven Investitionen etwa 15% der erhöhten Unelastizität der Nachfrage nach Aktien ausmacht. Mit anderen Worten: Passive Flows sind häufig unelastisch, der Preis und damit die Bewertung spielen keine Rolle. Eine andere Studie zeigt, dass Aktien mit einer hohen Index-Inklusionsrate (IXI), d.h. Aktien, die in mehreren stark passiv abgebildeten Indizes vertreten sind, überlegene Renditen ausweisen, vor allem getrieben durch passive Kapitalzuflüsse und nicht aufgrund fundamentaler Umstände. Die Underperformance von Value- und Small-Cap-Aktien in den letzten Jahrzehnten dürfte entsprechend teilweise auf die Dominanz passiver Investitionen zurückzuführen sein.¹⁰
Eine weitere Studie¹¹ kommt zu einem ähnlichen Schluss: Die Mittelzuflüsse in passive Fonds führen demnach zu einem überproportionalen Anstieg insbesondere der großen Unternehmen, die vom Markt überbewertet werden. Diese Effekte sind stark genug, um den Gesamtmarkt in die Höhe zu treiben, selbst wenn die Zuflüsse ausschließlich auf den Wechsel der Anleger von aktiven zu passiven Fonds zurückzuführen sind. In Übereinstimmung mit der Theorie weisen die größten Unternehmen im S&P 500 die höchsten Renditen und Volatilitätsanstiege nach Zuflüssen in den Index auf. Ein Grund dafür ist, dass die Liquidität eines Unternehmens oft nicht mit seiner Marktkapitalisierung skaliert. Eine geringe Liquidität führt zu höheren Geld-Brief-Spannen und kann die Volatilität verstärken, da selbst kleinere Aufträge den Preis signifikant bewegen können.
Mit der zunehmenden Konzentration des S&P 500 nimmt die Diversifizierung immer weiter ab. Obwohl Anleger bei einem S&P 500-Investment pro forma 500 Unternehmen kaufen, treiben nur wenige Titel die Rendite des Index, entsprechend nimmt auch das Risiko eines Index-Investments zu. Sollten die Mega Caps ihre hohen Gewinnerwartungen nicht erfüllen und die Aktien somit fallen, dürfte dies auch den S&P 500 in Mitleidenschaft ziehen – insbesondere vor dem Hintergrund, dass die Indexgewichtung dieser Titel so enorm ist und viele dieser Mega Caps sich in einer großen Anzahl an ETFs wiederfinden. Microsoft ist beispielsweise in 766 US-gelisteten Aktien-ETFs und als Tech-Unternehmen selbst in einem Versorger-ETF vertreten, was ein Drittel der fast 1.800 der US-gelisteten inländischen Aktien ETFs ausmacht.¹²
Die Fragilität von Einzelaktien nimmt weiter zu
Zuletzt gab es vor allem während der Berichtssaison oder bei Ad-Hoc-Nachrichten auffällig große Preisbewegungen bei Einzelunternehmen nach oben und unten –selbst bei Mega Caps. Diese Extrembewegungen sind unserer Meinung nach auf drei Faktoren zurückzuführen. Zum einen treiben die Zuflüsse in Indexfonds die Bewertungen nach oben, so dass insbesondere bei Enttäuschungen die Fallhöhe hoch ist. Zumal die Intraday-Liquidität in den letzten Jahren tendenziell abgenommen und sich die Handelsliquidität Richtung Closing verschoben hat.¹³ Da Unternehmen selten zum Closing berichten, sondern häufig vor dem Opening oder nach dem Closing, ist die Schwankungsbreite liquiditätsbedingt größer.
Dieser Effekt wird auch dadurch verstärkt, dass die Informationseffizienz zumindest am Tag der Unternehmensergebnisse deutlich zugenommen hat. Früher erfuhr man die Unternehmensergebnisse mit ein paar Tagen Verzögerung aus der Zeitung. Das Internet hat die Informationsbeschaffung deutlich beschleunigt und die Neo-Broker sorgen nun dafür, dass selbst Privatinvestoren in Echtzeit die Unternehmensergebnisse verfolgen und handeln können. Entsprechend schnell werden die neuen Informationen in die Kurse eingepreist, zumal auch die Aktienanalysten aufgrund des technischen Fortschritts (u.a. Künstliche Intelligenz) schneller eine Einschätzung zum Unternehmen liefern können. Die schnellere Preisanpassung an die neuen Informationen führt mathematisch zu einer höheren Volatilität – siehe Abbildung 8:
Der letzte Faktor, der die erhöhte Einzeltitelvolatilität begünstigt, ist die Markstruktur selbst. Viele Anleger investieren vermehrt direkt oder indirekt in Momentum-Strategien – Index-Investments sind zum Beispiel auch eine Momentum-Strategie: Outperformer bekommen qua Konstruktion ein höheres Index-Gewicht oder kommen überhaupt erst in den Index, Underperformer ein niedrigeres oder fallen gar aus dem Index. Zudem ist das Volumen von gehebelten ETFs sowie von gehandelten Call-Optionen auf US-Einzeltitel in den letzten Jahren regelrecht explodiert. Wenn man eine Call-Option auf eine Aktie kauft, ist das auch eine Momentum-Strategie, da mit steigendem Kurs der Aktie das Delta der Option (die Sensitivität gegenüber dem Preis des Underlyings) ebenfalls – sogar nicht-linear – zunimmt. Das Umgekehrte gilt in fallenden Märkten.
Die Market Maker sind bei diesen Produkten „short gamma“,¹⁴ d.h. sie agieren trend-verstärkend in beide Richtungen. Steigt der Kurs einer Aktie, muss die Aktie in die Stärke hinein gekauft werden. Bei fallenden Kursen gilt das Umgekehrte. Je mehr Gelder in diese Produkte also fließen, desto volatiler werden die zugrundeliegenden Aktien.
Conclusio – relevante Punkte für Investoren
Die Dominanz passiver Anlagen verändert die Marktstruktur grundlegend. Anleger und Unternehmen profitieren kurz- bis mittelfristig von der ETF-Begeisterung, aber die langfristigen Risiken wie Überbewertungen und erhöhte Fragilität sollten nicht unterschätzt werden. Bleiben externe Schocks aus, dürften die US-Märkte, insbesondere die in vielen Indizes/ETFs vertretenen Mega Caps, und die Bewertungen liquiditätsgetrieben weiter steigen.
Allerdings sind die Märkte seit der Finanzmarktkrise strukturell fragiler geworden. Dies ist auf eine Rückkopplungsschleife zurückzuführen, bei der sich Investoren in eine begrenzte Anzahl von Momentum-Trades (insbesondere Marktkapitalisierungsgewichtete ETFs) stürzen und dann beim Ausstieg (wenn Liquidität am dringendsten benötigt wird) mit einem Mangel an Handelsliquidität konfrontiert sind. Verstärkt wird dieser Effekt noch dadurch, dass börsennotierte Unternehmen die undifferenzierte Nachfrage nach Aktien durch passive Flows für sich ausnutzen und Aktien bei steigenden Märkten abstoßen. Allerdings gilt das Umgekehrte in dem Ausmaß nicht: Die Unternehmen kaufen bei fallenden Märkten Aktien weit weniger. In der Folge kommt es zu einer strukturellen Verschiebung hin zu einer leptokurtischen Renditeverteilung mit sogenannten „Fat Tails“. Solche Verteilungen haben höhere Eintrittswahrscheinlichkeiten von einerseits geringen positiven oder negativen Renditen und andererseits sehr hohen positiven oder negativen Renditen. Längere Phasen der Ruhe mit moderaten Renditen wechseln sich mit Volatilitätsschocks und extremen Renditen ab.
Solange ETFs insgesamt weiterhin Zuflüsse verzeichnen, bleibt die Wahrscheinlichkeit von schnellen Erholungen (V-Erholungen) nach Korrekturen hoch, die von nicht-fundamentalen Zuflüssen in Aktien getrieben werden. Entsprechend dürften sich Momentum-Strategien weiterhin positiv entwickeln. Für Anleger ist es zudem sinnvoll, Aktien zu halten, die eine hohe Index-Inklusionsrate aufweisen, um von den nicht-fundamentalen Flows zu profitieren. Irgendwann in den nächsten Jahren werden wir jedoch demographisch bedingt einen Wendepunkt bei diesen Zuflüssen sehen. Dann dürften vor allem die Aktien, die stark in Indizes vertreten sind unter Druck geraten. Flexible, aktive Strategien könnten von diesen Ineffizienzen profitieren.
Ulrich Urbahn
Ulrich Urbahn arbeitet seit Oktober 2017 für Berenberg und ist zuständig für quantitative Analysen sowie die Entwicklung strategischer und taktischer Allokationsideen und ist in die Kapitalmarktkommunikation eingebunden. Er ist Mitglied des Asset Allocation Committee und Portfoliomanager von flexiblen Multi Asset Strategien. Nach seinen Diplomen in VWL und Mathematik an der Universität Heidelberg war er mehr als zehn Jahre bei der Commerzbank unter anderem als Senior-Cross-Asset-Stratege tätig. Ulrich Urbahn ist CFA-Charterholder und gehörte bei der renommierten Extel-Umfrage jahrelang den drei weltweit besten Multi-Asset-Research-Teams an.