Herr Prof. Meyer, Sie sind Chefanlagestratege und Leiter Multi Asset im Wealth & Asset Management. Vor einem Jahr hatten Sie prognostiziert, dass 2023 "besser, aber nicht einfacher" für Anleger wird. Hat sich das bewahrheitet?
2022 gab es breite Verluste über beinahe alle Anlageklassen. Lediglich Rohstoffe performten. Aktien und Anleihen verloren im Gleichlauf. Grund war eine allgemeine Bewertungsreduktion getrieben durch einen starken Anstieg der realen Rendite – die Realrendite 10-jähriger inflationsindexierter US-Anleihen stieg um 2,5 Prozentzpunkte. Ein weiterer Anstieg ähnlichen Ausmaßes war sehr unwahrscheinlich. Zudem waren die Bewertungen von Aktien und Anleihen bereits deutlich attraktiver geworden. Das hat sich 2023 auch bewahrheitet. Aktien haben einen Teil der Verluste aus 2022 aufgeholt, und auch Anleihen haben sich über nahezu alle Segmente positiv entwickelt. Von daher war 2023 in der Tat ein besseres Jahr, wenn auch nicht einfacher für Anleger.
Was hat das Jahr 2023 für Anleger so schwierig gemacht?
2023 gab es viele Überraschungen gegenüber den Konsenserwartungen. Ende 2022 war die Erwartung, dass infolge der restriktiveren Geldpolitik die US-Konjunktur Anfang 2023 stagniert und danach bis zum Herbst 2023 in eine milde Rezession fällt, die es der Fed erlaubt, ab der zweiten Jahreshälfte die Zinsen wieder zu senken. In Europa schien sich bereits eine Rezession abzuzeichnen, die sich aufgrund der hohen Energiepreise über den gesamten Winter erstrecken sollte. Für China wurde mit der Lockerung der rigiden Null-Covid-Politik eine Stabilisierung und Erholung der Wirtschaft erwartet. Letztlich ist aber alles anders gekommen.
Europa ist viel besser durch den Winter gekommen als erwartet, rutschte aber im zweiten Halbjahr in Richtung Rezession. Die China-Erholung war nur von kurzer Dauer, und die US-Wirtschaft hat sich – trotz der Bankenkrise im Frühjahr – als überraschend robust erwiesen. US-Wirtschaftsdaten haben das gesamte Jahr kontinuierlich positiv überrascht. Damit gab es im zweiten Halbjahr statt den ersten Zinssenkungen weitere Zinssteigerungen. Die Geldpolitik wurde deutlich restriktiver als erwartet und Anleihe-renditen stiegen weiter, auch begünstigt durch eine steigende US-Staatsverschuldung. Die Realrendite 10-jähriger inflationsindexierter Anleihen kletterte im dritten Quartal um einen weiteren Prozentpunkt. Ähnlich wie 2022 verloren Aktien und Anleihen dann wieder im Gleichlauf. Insbesondere Anlagen mit hoher Zinssensitivität, wie beispielsweise Wachstums- und Nebenwerte, litten. Die Märkte erlebten in gewissem Maße eine Fortsetzung des perfekten Sturmes des Jahres 2022. Erst im November setzte mit schwächeren US-Konjunkturdaten eine Gegenbewegung ein. Das dominierende Thema am Markt wechselte somit ständig, und Anleiherenditen schwankten stark. Erschwerend wirkte, dass in den USA das Thema Künstliche Intelligenz einzelne große Technologietitel trotz steigender Zinsen beflügelte, während der Rest des Marktes auf der Stelle trat. Die geringe Marktbreite und die starke Outperformance der sogenannten „Magnificent 7“ war ein entscheidendes Merkmal im Jahr 2023. Und letztlich kam mit dem Israel-Hamas-Konflikt ein weiteres geopolitisches Risiko hinzu.
Was haben diese Entwicklungen für die Mulit-Asset-Strategien bedeutet? Welche Anpassungen haben Sie im Jahresverlauf gemacht?
Unsere Strategien haben sich wie die Märkte positiv entwickelt. Trotzdem konnte die Performance unserer Strategien nach dem schmerzhaften Jahr 2022 auch 2023 nicht an die erfreulichen Ergebnisse der vorangegangenen Jahre anknüpfen. Die Belastung kam von drei Fronten: der breiten Diversifizierung, einer vorsichtigen Positionierung ab März sowie der Aktienselektion.
Die Bodenbildung bei Aktien im 2. Halbjahr 2022 hatten wir richtig erwartet und sind ab Herbst 2022 mit ordentlich Schwung ins Jahr 2023 gestartet. Nach der deutlichen Erholung bis Februar und mit der US-Regionalbankenkrise und der weiter restriktiven Geldpolitik mehrten sich jedoch die Risiken, und wir haben uns wieder defensiver und breiter positioniert. Das war zu früh. Von der Entwicklung amerikanischer Aktien im Zuge der KI-Euphorie bis Ende Juli haben wir aufgrund unserer US-Untergewichtung angesichts der noch immer hohen Bewertungen von US-Aktien kaum profitiert. Andere Anlagen haben hingegen kaum zugelegt oder sind gefallen. Das Ausbleiben einer deutlichen Erholung in China belastete das direkte und indirekte China-Exposure in unseren Portfolios. So stiegen auch Rohstoffe erst im zweiten Halbjahr. Diversifikation war im Umfeld erhöhter Risiken zwar gerechtfertigt, hat sich aber in der ersten Jahreshälfte genauso wenig ausgezahlt wie unsere deutliche Beimischung von Nebenwerten. Zudem fiel das in vielen unserer Strategien eingesetzte Tailhedge-Zertifikat im Umfeld steigender Aktienmärkte und rückläufiger Volatilität.
Von Juli bis Oktober war eine deutliche Rohstoffbeimischung von Vorteil, auch unsere Skepsis gegenüber der Gesamtmarktentwicklung zahlte sich aus – europäische Aktien fielen deutlich unter die Niveaus von Februar, amerikanische Aktien fielen auf die Februarniveaus zurück. Der weitere Anstieg der US-Realrenditen auf 2,5 % belastete jedoch erneut die bei Berenberg im Fokus stehenden Qualitäts- und Wachstumstitel sowie Nebenwerte. Dazu kamen einzelne enttäuschende Entwicklungen der selektierten Einzeltitel. Positiver war unsere Durationssteuerung bei Anleihen. Bei weiter steigenden Zinsen waren wir hier lange kurz positioniert wegen der hohen Zinsvolatilität und dem stärkeren Gleichlauf von Aktien und Anleihen. Erst zum Ende des dritten Quartals haben wir die Duration auf neutral angehoben, was sich ab November als gut erwies. Nachdem die Aktienmärkte von Juli bis Ende Oktober um mehr als 10 % korrigiert hatten, hoben wir Ende Oktober unser Aktiengewicht auf ein nur noch kleines Untergewicht an. Seit November konnten wir gegenüber der Benchmark etwas aufholen.
In welchen Szenarien dürften sich Ihre Multi-Asset-Strategien in den kommenden Monaten überdurchschnittlich entwickeln?
Bei einer Fortsetzung des Umfelds deutlich steigender Zinsen der letzten zwei Jahre, was wir für unwahrscheinlich erachten, dürften es unsere Strategien nicht einfach haben, aber deutlich weniger underperformen. Die Bewertungskorrektur bei Quality-Growth-Aktien dürfte weitestgehend hinter uns liegen, und bei Anleihen dürfte der Carry einen etwaigen weiteren Zinsanstieg (teilweise) kompensieren. Stabilisieren sich hingegen die Zinsen oder fallen, dürften sich unsere Strategien aufgrund des hohen Anleihe- und Gold-Exposures sowie unseres Aktienstils (Fokus auf Wachstums- und Qualitätstitel, sowie Nebenwerte) überdurchschnittlich entwickeln. In einem Szenario, in dem die Aktienmärkte aufgrund einer stärkeren Wirtschaftseintrübung fallen würden, dürfte unsere vorsichtige Aufstellung sowie die Diversifikation dazu beitragen, dass unsere Strategien nur unterproportional verlieren. Im Falle seitwärts laufender Märkte sollten unsere Strategien dank der hohen laufenden Rendite auf Portfolioebene gut abschneiden. Des Weiteren erwarten wir weiter eine Erholung in China im Zeitverlauf. Dann dürften unsere Strategien von ihren indirekten China-Investments (Industriemetalle etc.) profitieren.
Wie schätzen Sie grundsätzlich das Umfeld für Multi-Asset-Strategien ein – besonders in einer Welt mit positivem Anleiherenditen?
Aus meiner Sicht ist der Ausgangspunkt für „wahre“ Multi-Asset-Strategien sehr gut. Anleihen sind mit den deutlich gestiegenen Renditen wieder zu einer attraktiven Assetklasse geworden. Aktien haben abseits der großen KI-Profiteure eine deutliche Bewertungskorrektur durchlebt, insbesondere auch Nebenwerte und viele Qualitätstitel. Rohstoffe sind durch die Energiewende, die Deglobalisierung und die Aufrüstung strukturell unterstützt, bei deutlich zu wenig Investitionen in Produktionskapazitäten in den letzten Jahren. Die Renditeerwartungen an die verschiedenen Anlagenklassen liegen so nahe beieinander, wie lange nicht, so dass eine breite Diversifikation nicht mit Renditennachteilen einhergehen sollte. Eine mittelfristig wohl höhere Inflation und insbesondere Inflationsvolatilität und damit eine erhöhte Korrelation zwischen Aktien und Anleihen sprechen außerdem für eine breite Diversifikation über alle Anlageklassen, Segmente und Regionen hinweg. Anders als Anlagen in kurzlaufenden sicheren Anleihen oder Termingeld sollte eine solche Aufstellung in den kommenden 5–10 Jahren eine Rendite generieren, die oberhalb der Inflation liegt und damit nicht nur den realen Erhalt des Vermögens, sondern auch dessen Steigerung ermöglichen. Multi-Asset-Ansätze, die stark auf Anlagen mit Sachwertcharakter (Rohstoffe, Aktien) setzen, bieten nicht nur bei überraschender Inflation, sondern auch angesichts der Risiken durch die global steigenden Staatsverschuldungen deutliche Vorteile gegenüber rein nominellen Finanzanlagen.
Unser Interviewgast
Prof. Dr. Bernd Meyer
Prof. Dr. Bernd Meyer ist seit Oktober 2017 Chefanlagestratege bei Berenberg und dort im Wealth and Asset Management für die diskretionären Multi-Asset-Strategien sowie die Vermögensverwaltungsmandate zuständig. Prof. Dr. Bernd Meyer war zunächst Leiter der Europäischen Aktienstrategie bei der Deutschen Bank in Frankfurt und London und baute ab 2010 als Bereichsleiter das globale Cross Asset Strategy Research bei der Commerzbank auf. Prof. Dr. Meyer wurde mehrfach ausgezeichnet. So rangierte er mit seinem Team beim renommierten Extel Survey in den Jahren 2013 bis 2017 jeweils unter den besten drei Multi Asset Research Teams weltweit. Prof. Dr. Meyer ist DVFA Investment Analyst, CFA-Charterholder und Gastdozent für „Empirische Kapitalmarktforschung“ an der Universität Trier. Er hat zahlreiche Artikel und zwei Bücher veröffentlicht sowie drei wissenschaftliche Auszeichnungen erhalten.