Auf den Punkt
2023 dürfte das Wachstum in den Fokus der Märkte rücken. Hier lauern Risiken und es dürfte sich zunächst weiter abschwächen. Bei Enttäuschungen könnte es zeitweise wieder zu einem Gegenlauf von Staatsanleihen und Aktien kommen.
Anlegerstimmung und -positionierung sind weiter pessimistisch. Das bietet Potenzial für eine weitere begrenzte Erholung bei Aktien. Eine deutliche Bewertungsausweitung ist aber unwahrscheinlich und die Erwartungen für Unternehmensgewinne scheinen noch deutlich zu hoch.
Anleihen und Rohstoffe bieten attraktive Alternativen, sodass ein zu starker Aktienfokus nicht angebracht scheint.
Portfoliopositionierung auf einen Blick
Für das vierte Quartal waren wir leicht optimistisch und hatten nach dem Abverkauf im September unser moderates Untergewicht bei Aktien geschlossen. Der starken Entwicklung im vierten Quartal sind wir dann aber nicht hinterhergelaufen, sondern haben ganz im Gegenteil in mehreren kleinen Verkäufen dafür gesorgt, dass das Aktienrisiko durch die positive Wertentwicklung nicht zu groß wird. Insbesondere in den USA haben wir das Gewicht reduziert. Bei Anleihen haben wir unser Übergewicht außerhalb sicherer Staatsanleihen im vierten Quartal ausgebaut, zu Lasten der Kassenposition und auch Gold. Zudem haben wir Gold etwas zugunsten von Industriemetallen reduziert, bleiben aber weiterhin deutlich übergewichtet. Auch unser US-Dollar-Exposure haben wir reduziert. Der US-Dollar dürfte seinen Hochpunkt überschritten haben. Eine moderate Abschwächung des US-Dollar 2023 würde insbesondere die Schwellenländer begünstigen. Bei Aktien präferieren wir Europa und die Schwellenländer gegenüber den USA und haben mit Blick auf eine Konjunkturerholung später im Jahr 2023 bereits Small und Mid Caps wieder etwas höher gewichtet. Gold und andere Rohstoffe, insbesondere Industriemetalle, bevorzugen wir weiter gegenüber Staatsanleihen. Bei Unternehmens- und Schwellenländeranleihen sind wir übergewichtet.
Rückblick – Bodenbildung im zweiten Halbjahr 2022
Das vierte Quartal brachte, worauf die Märkte schon lange gewartet hatten, eine niedriger als erwartet ausfallende Inflation in den USA. Dies nährte die Hoffnung, dass der Inflationshochpunkt dort bereits überschritten ist und damit die Zentralbanken nicht mehr ganz so stark auf die Bremse treten müssen. Die amerikanische Fed befeuerte diese Hoffnung, indem sie ein reduziertes Tempo weiterer Zinsschritte diskutierte. Mit Blick auf China wechselte die Stimmung zwischen Öffnungshoffnung und neuen Lockdown-Ängsten. Die globalen Aktienmärkte erholten sich deutlich von den Tiefpunkten Ende September/Anfang Oktober – insbesondere europäische Aktien. Ab Mitte Oktober fielen mit etwas schwächeren Konjunkturdaten auch die Anleiherenditen von ihren Höchstständen ab. Das Umfeld einer positiven Korrelation zwischen Aktien und Anleihen blieb damit intakt. Der überbewertete US-Dollar gab deutlich nach. Der Aufwärtstrend hier scheint gebrochen. Gold handelte in Euro im vierten Quartal fast unverändert, Öl gab nach, während Industriemetalle deutlich zulegten.
Konjunkturausblick – Fokuswechsel von Inflation zu Wachstum
Überwindung des Inflationsgipfels, Ende der Zinsanhebungen, in den USA im zweiten Halbjahr 2023 wohl gar Zinssenkungen, eine deutliche Erholung der Wirtschaft in der Eurozone aus der Rezession ab dem Frühjahr, nur eine milde Rezession in den USA, die Lockerung der Corona-Beschränkungen in China und im Laufe des Jahres womöglich auch eine Entspannung der Lage in der Ukraine – das wirtschaftliche Umfeld, das unsere Volkswirte prognostizieren, erscheint für die Finanzmärkte in 2023 gar nicht so schlecht.
Die Wirtschaft dürfte aber zunächst schwächer werden, bevor es wieder besser wird, und der Fokus der Märkte dürfte von der Inflation zum Wachstum wechseln. Aktien und Staatsanleihen könnten sich damit zeitweise wieder gegenläufig entwickeln und der Diversifikationseffekt zurückkommen. Beim Wachstum der Wirtschaft wie auch der erwarteten Gewinne für 2023 lauern dennoch Risiken. Die Gewinnerwartungen erachten wir als zu optimistisch – bei zunehmendem Margendruck dürften die Gewinne kaum steigen. Und die Risiken bleiben vielfältig: von neuen geopolitischen Konflikten über Kreditereignisse angesichts der gestiegenen Finanzierungskosten und des schwächeren Wachstums zu einer zu hartnäckigen Inflation und/oder einer doch viel härteren Landung der Wirtschaft. Zudem drohen auch nach Ende der Zinsanhebungen noch Belastungen vom Liquiditätsentzug durch die quantitative Drosselung in den USA und der Eurozone. 2023 dürfte damit an den Finanzmärkten zwar ein besseres, aber kein einfaches und zudem ein sehr pfadabhängiges Jahr werden. Beispielsweise könnte die Antwort auf die Frage „Was kommt zuerst, der Fed-Pivot oder der vollständige Rücktritt Chinas von den Corona-Beschränkungen?“ für die Märkte einen deutlichen Unterschied machen. Aber selbst wenn die akuten Probleme überwunden werden, ist danach keinesfalls ein mit den letzten Dekaden vergleichbares Umfeld zu erwarten. Dafür mehrten sich schon 2022 die Anzeichen.
Zeitenwende und Neuordnung – vieles ist mittelfristig anders
Disinflation und Deflationsbefürchtungen wichen einer seit mehr als 40 Jahren nicht gesehenen hohen Inflation. Vorrangiges Ziel der Zentralbanken ist nicht mehr die Stützung von Wirtschaft und Finanzmärkten sondern die Bekämpfung der Inflation, auch wenn dies Gefahren für Wirtschaft und Märkte bringt. Das Beispiel Großbritannien hat gezeigt, dass die Finanzmärkte massive Erhöhungen von Staatsverschuldungen kritisch beäugen. Die unipolare, US-fokussierte Weltordnung wandelt sich mit der Deglobalisierung, mit Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine und der Entscheidung der G7 und der EU, die Währungsreserven der russischen Zentralbank einzufrieren, in eine multipolare Weltordnung, in der sich viele Länder nicht eng an nur einen größeren Partner binden wollen. Der Aufbau neuer Lieferketten und der Infrastruktur für Mobilität und Energieversorgung sowie die Energiewende erfordern starke Investitionen und bedingen einen Wettlauf um knappe Rohstoffe. Das unterscheidet die aktuelle Situation von Vergleichbaren in der Vergangenheit, wo realwirtschaftliche Exzesse in einer Rezession erst wieder ausgeglichen werden mussten. Im Gegensatz dazu erlebten wir zuletzt einen exogenen Schock und wir müssen investieren, um den Schock hinter uns zu lassen. Das bietet Chancen. Die Deglobalisierung, die Energiewende und die mittelfristig anhaltenden Angebotsengpässe bei Rohstoffen und Arbeitskräften (Demographie) dürften aber dafür sorgen, dass mit einer Wachstumserholung die Inflation schnell wieder anzieht, was dann erneut zügig die Zentralbanken auf den Plan rufen dürfte. Das Ergebnis sind kürzere, stärkere und erratischere Inflations- und Wirtschaftszyklen und damit eine erhöhte Planungsunsicherheit. Diese lastet auf den Bewertungen, denn Investoren verlangen berechtigt eine höhere Risikoprämie. Auf eine schnelle, nachhaltige Bewertungsausweitung bei Aktien sollten Anleger deshalb nicht hoffen. Auch wenn wir 2023 Erholungspotenzial bei Aktien sehen, angesichts niedriger Anlegerpositionierung und verbreitetem Pessimismus bleibt das Potenzial begrenzt.
Alternativen bei Anleihen, Rohstoffen und Schwellenländern
Erstmals seit 14 Jahren übersteigen die Renditen von Unternehmensanleihen hoher Qualität die Dividendenrenditen von Aktien deutlich (untere Abb.). Viele Anleihesegmente wie das Nachranganleihesegment bieten schon jetzt eine so hohe laufende Verzinsung, dass sie selbst bei leicht steigenden Zinsen/Spreads eine positive Rendite 2023 erwarten lassen. Zudem dürften die Renditen bei Unternehmens- und Schwellenländeranleihen anders als bei vielen Staatsanleihen mehr als einen Ausgleich einer mittelfristig im Durchschnitt höheren Inflation bieten. Rohstoffe, insbesondere Industriemetalle, bleiben für uns klare Profiteure des veränderten Umfelds und auch Schwellenländer wie Indien, Indonesien oder in Lateinamerika dürften profitieren.
Autor
Prof. Dr. Bernd Meyer
Prof. Dr. Bernd Meyer ist seit Oktober 2017 Chefanlagestratege bei Berenberg und dort im Wealth and Asset Management für die diskretionären Multi-Asset-Strategien sowie die Vermögensverwaltungsmandate zuständig. Prof. Dr. Bernd Meyer war zunächst Leiter der Europäischen Aktienstrategie bei der Deutschen Bank in Frankfurt und London und baute ab 2010 als Bereichsleiter das globale Cross Asset Strategy Research bei der Commerzbank auf. Prof. Dr. Meyer wurde mehrfach ausgezeichnet. So rangierte er mit seinem Team beim renommierten Extel Survey in den Jahren 2013 bis 2017 jeweils unter den besten drei Multi Asset Research Teams weltweit. Prof. Dr. Meyer ist DVFA Investment Analyst, CFA-Charterholder und Gastdozent für „Empirische Kapitalmarktforschung“ an der Universität Trier. Er hat zahlreiche Artikel und zwei Bücher veröffentlicht sowie drei wissenschaftliche Auszeichnungen erhalten.