Herr Urbahn, als Leiter Multi Asset Strategy & Research sind Sie gemeinsam mit Ihrem Team unter anderem für die Generierung von Investmentideen für die Multi-Asset-Strategien verantwortlich. Wie kommen Sie zu Investmentideen?
Am meisten hilft wahrscheinlich die Erfahrung, schon mehrere Konjunkturzyklen und Krisen an den Finanzmärkten beruflich miterlebt zu haben. Auch wenn sich die Vergangenheit nicht wiederholt, reimt sie sich doch häufig, sodass historische Vergleiche bei der Entscheidungsfindung hilfreich sind. Dazu nutzen wir eigene Modelle und denken in Szenarien, lesen aber auch viel Fremdresearch bzw. diskutieren mit Kapitalmarktstrategen der großen Finanzhäuser und unabhängiger Anbieter. Das hilft zu verstehen, was der Konsens denkt und was gegebenenfalls schon eingepreist ist. Über die letzten Jahre hinzugekommen ist das Hören von Finanz-Podcasts, insbesondere aus den USA, weil dort die großen Gelder verwaltet werden. Es ist folglich wichtig zu wissen, wie die US-Investoren die Kapitalmärkte einschätzen. Zudem werden Spezialisten für verschiedene Finanzmärkte interviewt, sodass man sein Wissen ständig verbreitern kann. Man lernt nie aus.
Können Sie uns ein Beispiel nennen?
Anfang 2022 ist mir aufgefallen, dass Hedge-Fonds stark auf einen fallenden brasilianischen Real setzen. Es gab eine rekordverdächtige Short-Position – und das trotz damals schon steigender Rohstoffpreise und der Tatsache, dass die brasilianische Zentralbank die Zinsen angesichts der damals bereits hohen Inflation in Brasilien schon viel früher und stärker als die großen Zentralbanken angehoben hatte. Zu der Zeit kam Lateinamerika/Brasilien bei Research-Berichten der Broker und in Podcasts kaum (positiv) vor. Folglich war der Konsens nicht optimistisch für Brasilien. Um das zu verifizieren, habe ich mit ETF-Händlern telefoniert, ob sie in dem Bereich Zuflüsse sehen. Daraufhin wurde ich beinahe ausgelacht. Das Thema interessierte kaum einen. Und Broker warnten mich, es sei zu früh, in Lateinamerika zu investieren. Lateinamerikanische Aktien waren aber äußerst günstig bewertet – die Risikoprämie entsprechend hoch. Zudem hatte Lateinamerika gerade angefangen outzuperformen, und das in einem Umfeld fallender US-Aktienkurse – was eher ungewöhnlich und ein Indiz dafür ist, dass Investoren dort nicht übermäßig positioniert waren. Folglich schätzten wir das Risiko-Rendite-Profil als attraktiv ein, diskutierten die Idee im Investment Committee und entschieden im Asset Allocation Committee in der Breite zu investieren – auch vor dem Hintergrund, dass lateinamerikanische Aktien wenig mit unserem hauseigenen Aktienstil „Quality Growth“ korreliert sind und somit dazu beitragen, die Volatilität der Multi-Asset-Portfolios zu glätten.
Welche anderen Ideen gibt es und wie werden diese umgesetzt?
Wir versuchen vor allem einen Mehrwert bei der Suballokation zu schaffen, das heißt, welche Regionen/Sektoren/Segmente stellen eine sinnvolle Ergänzung zur bestehenden Multi-Asset-Strategie dar? Das können beispielsweise innerhalb der Alternatives Industriemetalle sein. Finden wir eine Idee nicht nur taktisch, sondern auch längerfristig attraktiv, publizieren wir oft einen Fokus-Artikel dazu. Dies hat den Vorteil, dass wir uns mit einem Thema noch intensiver beschäftigen und es damit besser durchdringen. Zudem hilft es unseren Kunden, unsere Beweggründe besser zu verstehen.
Zu unseren Aufgaben gehört es auch, taktische Positionierungen nach hoffentlich positiven Entwicklungen wieder zurückzufahren bzw. zu substituieren. Wir haben im November zum Beispiel einen S&P 500 ETF teilweise in einen währungsgesicherten S&P 500 ETF gedreht, nachdem der EUR/USD deutlich unter Parität gefallen war und wir für den EUR mittelfristig Aufwärtspotenzial sahen. Bei der Ideengenerierung schauen wir neben Fundamental- vor allem auf Sentiment- und Positionierungsdaten. Die Ideen werden dann häufig mittels ETFs, aber auch mittels Investmentfonds umgesetzt.
Wenn wir den Blick ausweiten, wie ist Ihr ganz großes Bild für die nächsten Dekade?
In den kommenden Jahren ist aus unserer Sicht nicht nur im Durchschnitt mit einer höheren Inflation als in der letzten Dekade, sondern auch mit deutlichen Schwankungen der Inflation, das heißt mit einer erhöhten Volatilität der Inflation, zu rechnen. Der Grund liegt vor allem in den längerfristigen Angebotsengpässen bei Rohstoffen, der Energiewende, der Zunahme von Klimakatastrophen, der Deglobalisierung und der demographischen Entwicklung, die zu einem zunehmenden Mangel an Arbeitskräften führen dürfte.
Was sind die Risiken?
In einem Umfeld erhöhter Inflation und insbesondere erhöhter Inflationsvolatilität dürften die Konjunkturzyklen kürzer ausfallen, weil die Zentralbanken restriktiver als in der letzten Dekade agieren müssen, um die Inflation nicht weiter anzuheizen. Die Planungssicherheit ist für Unternehmen und Anleger damit deutlich niedriger, weshalb diese sich bei Investitionen stärker zurückhalten und eine höhere Entlohnung der eingegangenen Risiken verlangen. Dies lastet auf den Bewertungen von Investments und spricht zudem für eine erhöhte Volatilität über alle Anlageklassen hinweg.
Ein starker Fokus auf reale Anlagen bleibt auch vor dem Hintergrund der weltweit hohen Staatsverschuldungen angebracht, denn die höheren Inflationsraten dürften von den Staaten mittels finanzieller Repression genutzt werden, um die Schuldentragfähigkeit zu gewährleisten. Mit nominellen Anlagen dürfte es nicht einfach sein, in einem solchen Umfeld deutlich positive Realrenditen zu erzielen. Bei Aktien sollten Anleger auf möglichst niedrig bewertete Unternehmen mit starker Marktstellung (Preissetzungsmacht) und robusten Cashflows fokussieren. Eine höhere Inflationsvolatilität in der kommenden Dekade birgt also Risiken für die Kapitalmärkte, aber für flexible Investoren vor allem auch Chancen.
Was halten Sie von Kryptowährungen als neue Anlageklasse?
Zu Kryptowährungen gab es in den letzten Jahren das Narrativ, dass diese unkorreliert zu Risikoanlagen seien und einen Inflationsschutz darstellen. Diese Sichtweise war mir immer suspekt, weil Bitcoin & Co noch keine lange Historie vorweisen und folglich auch keine Hochinflationsphasen erlebt hatten. Zudem hat sich mal wieder bewahrheitet, dass sobald es für Anlageklassen Futures und ETFs gibt, die Korrelation automatisch ansteigt, weil diese dann in einem globalen De-Risking auch einfach verkauft werden können – sie profitieren also nicht mehr von der Illiquidität, die zu einer gewissen Unkorreliertheit geführt hatte. Glücklicherweise sind Immobilien illiquide, sonst würden die Häuserpreise auch viel mehr schwanken und die Besitzer entsprechend nervös machen.
Gleichwohl muss ich sagen, dass ich die Anwendungsfälle der Blockchain-Technologie sehr spannend finde und für meine Kinder auch ein wenig in Kryptowährungen investiert bin. Für mich ist das eine Art Call-Option. Man investiert etwas Geld, muss sich aber bewusst sein, dass es gen null fallen kann. Andererseits hat es viel Potenzial, sollten die Prognosen der Optimisten eintreffen. Letztlich ist dies aber mehr Spekulieren als Investieren.
Hat sich in den letzten Jahren viel an Ihrer Arbeit geändert?
Inhaltlich sind vor allem drei Felder stärker in den Fokus gerutscht. Die Zentralbanken sind mit ihren riesigen Kaufprogrammen noch wichtiger für die Finanzmärkte geworden, sodass man ihnen noch mehr Beachtung schenken muss. Wird dem Markt Liquidität entzogen, kämpfen alle Anlagen um dann weniger Liquidität, was auf die Bewertungen drückt. Andererseits macht die Anleiheseite wieder Spaß, da man hier wieder Rendite erwirtschaften kann. Spätestens seit der Corona-Krise und mit der Energiewende stehen zudem Rohstoffe vermehrt im Fokus. Und dieser Trend dürfte über die nächste Dekade dank der Energiewende anhalten, sodass wir auch da viel Zeit für Research und Analysen investieren. Zu guter Letzt hat der Optionsmarkt deutlich an Relevanz gewonnen. Optionen auf Einzelaktien haben ein außergewöhnliches Wachstum verzeichnet. So überstieg 2021 das gehandelte Gesamtvolumen der Optionen zeitweise erstmals das gehandelete Volumen der zugrundeliegenden Aktien. Die Optionsmärkte haben entsprechend einen zunehmenden Einfluss auf die Aktienmärkte, insbesondere was die Volatilität und Event-Risiken anbelangt. Vor diesem Hintergrund ist es wichtig zu verstehen, wer die großen Akteure am Optionsmarkt sind und wie die Optionshändler positioniert sind. Darüberhinaus hat gerade 2022 gelehrt, dass es sinnvoll sein kann, sich mit Optionen abzusichern, weil Korrelationen zwischen verschiedenen Anlageklassen nicht stabil sind.
Unser Interviewgast
Ulrich Urbahn
Ulrich Urbahn arbeitet seit Oktober 2017 für Berenberg und ist zuständig für quantitative Analysen sowie die Entwicklung strategischer und taktischer Allokationsideen und ist in die Kapitalmarktkommunikation eingebunden. Er ist Mitglied des Asset Allocation Committee und Portfoliomanager von flexiblen Multi Asset Strategien. Nach seinen Diplomen in VWL und Mathematik an der Universität Heidelberg war er mehr als zehn Jahre bei der Commerzbank unter anderem als Senior-Cross-Asset-Stratege tätig. Ulrich Urbahn ist CFA-Charterholder und gehörte bei der renommierten Extel-Umfrage jahrelang den drei weltweit besten Multi-Asset-Research-Teams an.