Liebe Leserinnen, liebe Leser,
das vierte Quartal brachte einen versöhnlicheren Abschluss eines der historisch schlechtesten Jahre für Multi-Asset-Anleger, in dem die aggressivste geldpolitische Straffung seit mehr als 40 Jahren die Bewertung von Aktien, Anleihen und Immobilien gleichermaßen traf. Rohstoffe boten den einzigen Lichtblick, nicht zuletzt wegen Putins Krieg und der schwelenden Energiekrise. Die Erholung verlief wie erhofft: Die US-Inflation im Oktober überraschte erstmals niedriger, woraufhin die Markterwartungen weiterer Zinserhöhungen fielen und die Fed signalisierte, dass die Zinsschritte von nun an wohl kleiner werden. Aktien und Anleihen erholten sich parallel – es kam wohl zu der von uns erwarteten Bodenbildung.
Die Ausgangsbasis für 2023 ist mit günstigeren Bewertungen, höheren Zinsen, dem noch immer verbreiteten Pessimismus, geringen Risikopositionen vieler Anleger und hohen Kassenbeständen deutlich besser als 2022. Sicherlich wird die globale Wirtschaft zunächst weiter schwächer, bevor es wieder aufwärts geht. Aber über eine drohende Rezession und einen Gewinneinbruch wird schon lange gesprochen – Überraschungen sollten sich also in Grenzen halten. Sinkt die Inflation, laufen die Zinsanhebungen aus, stabilisieren sich die Finanzierungsbedingungen und bleibt ein Wirtschaftskollaps (harte Landung) aus, wie wir es erwarten, dürften die Tiefstände hinter uns liegen und die Märkte sich weiter beruhigen. Risiken für dieses Szenario sind systemische Kreditereignisse („Kreditschock“), eine schwere Rezession, neue geopolitische Konflikte oder eine hartnäckigere Inflation, die die Zentralbanken die Wirtschaft in die Knie zwingen lässt.
Anders als in den letzten Jahren sehen wir Chancen in allen Anlageklassen. Anleihen bieten wieder ansehnliche Renditen, Risikoaufschläge haben sich ausgeweitet, Aktien sind nicht mehr übermäßig hoch bewertet, besonders in Europa und den Schwellenländern, und der Superzyklus bei Industriemetallen scheint intakt. Der Fokus der Anleger sollte sich deshalb von der Aktienseite samt taktischer Quotensteuerung hin zu einer breiten Aufstellung zur Nutzung der Rendite- und Diversifikationschancen aller Anlageklassen verschieben, zumal wir nicht erwarten, dass Staatsanleihen und Aktien schnell nachhaltig zur negativen Korrelation der letzten zwei Dekaden zurückfinden werden. Nicht nur in dieser Hinsicht erleben wir eine Neuausrichtung, die viele Muster und Strategien der letzten ein bis zwei Dekaden in Frage stellt.
Corona-Beschränkungen in China, die Erwartung, dass eine milde Rezession für die US-Wirtschaft erst im Frühjahr kommt, hartnäckigere Inflation in Europa und zu hohe Gewinnerwartungen sprechen dafür, dass der weitere Weg nach oben nicht ohne erneute Rückschläge verläuft – besonders im ersten Halbjahr. Wir sind nach der jüngsten Erholung ausgewogen positioniert, neutral bei Aktien mit Fokus auf Europa und Schwellenländer, übergewichtet bei Gold, Industriemetallen, Unternehmens- und Schwellenländeranleihen und untergewichtet bei Kasse und Staatsanleihen.
Im Insights-Interview diskutiert Ulrich Urbahn, Leiter Multi Asset Strategy & Research, wie sein Team zu Investmentideen kommt, wie sich seine Arbeit verändert und was die Zukunft bringen könnte.
Herausgeber
Prof. Dr. Bernd Meyer
Prof. Dr. Bernd Meyer ist seit Oktober 2017 Chefanlagestratege bei Berenberg und dort im Wealth and Asset Management für die diskretionären Multi-Asset-Strategien sowie die Vermögensverwaltungsmandate zuständig. Herr Meyer war zunächst Leiter der Europäischen Aktienstrategie bei der Deutschen Bank in Frankfurt und London und baute ab 2010 als Bereichsleiter das globale Cross Asset Strategy Research bei der Commerzbank auf. Prof. Dr. Meyer wurde mehrfach ausgezeichnet. So rangierte er mit seinem Team beim renommierten Extel Survey in den Jahren 2013 bis 2017 jeweils unter den besten drei Multi Asset Research Teams weltweit. Prof. Dr. Meyer ist DVFA Investment Analyst, CFA-Charterholder und Gastdozent für „Empirische Kapitalmarktforschung“ an der Universität Trier. Er hat zahlreiche Artikel und zwei Bücher veröffentlicht sowie drei wissenschaftliche Auszeichnungen erhalten.