„German Bazooka“ – Renaissance des deutschen Mittelstands?

Spotlight bietet Einblicke in das Berenberg Produktuniversum und beleuchtet Schlüsselthemen im Zusammenhang mit aktuellen Marktentwicklungen.

Die finale Entscheidung zur Reform der Schuldenbremse am 18. März 2025 markiert einen Paradigmenwechsel in der deutschen Finanzpolitik. Dieser Schritt, vielfach als „German Bazooka“ bezeichnet, weckt Hoffnungen auf eine wirtschaftliche Belebung nach Jahren der Stagflation in Deutschland. Unser Senior Economist Dr. Felix Schmidt kommentierte am 21. März, dass aus dem Fiskalpaket ein Wachstum „in Richtung 1,5 Prozent“ bewegt werden könnte, wenn sich „klare Reformzusagen der neuen Regierung im Koalitionsvertrag wiederfinden“. Die Entscheidung der deutschen Politik löste in den vergangenen Wochen historische Kursbewegungen an den deutschen Aktienmärkten aus und befeuerte insbesondere Aktien mit einem vermeintlich starkem Deutschland-Exposure. Im Folgenden gilt es zu beleuchten: Was bedeutet diese Entwicklung für den Mittelstand? Wer können die wahren oder heimlichen Profiteure dieser neuen fiskalischen Dynamik sein – und sind die jüngsten, teils extremen Marktbewegungen bei diesen Aktien tatsächlich gerechtfertigt?

Markteuphorie führt zu einer kurzfristigen Neubewertung deutscher Aktien

Bereits in den vergangenen Wochen waren die Auswirkungen der politischen Entscheidungen deutlich an den Aktienmärkten spürbar. Der DAX verzeichnete neue Rekordhöchststände bis zum Tag der finalen Zustimmung mit einem Anstieg von knapp 18% seit Jahresstart, während auch die deutschen Nebenwerte aus ihrem Dornröschenschlafder vergangenen drei Jahren erwachten und signifikant zulegen konnten. Der SDAX stieg seit Jahresstart um 20% und der MDAX um 17%¹. Damit zählten deutsche Aktien, zu den sich am besten entwickelnden Aktien im globalen Anlageuniversum. Die Euphorie an den deutschen Aktienmärkten basiert auf der Hoffnung durch erhöhte Staatsausgaben die deutsche Wirtschaft und Infrastruktur sowie die Verteidigungsfähigkeit zu beflügeln.

Die beschlossenen Änderungen des Grundgesetzes sehen vor, dass

  • Ausgaben für Verteidigung und bestimmte sicherheitspolitische Investitionen ab einer bestimmten Höhe künftig nicht mehr auf die Schuldenregel des Grundgesetzes angerechnet werden.
  • die Einrichtung eines Sondervermögens in Höhe von 500 Milliarden Euro „für zusätzliche Investitionen in die Infrastruktur und für zusätzliche Investitionen zur Erreichung der Klimaneutralität bis 2045“ ermöglicht werden.
  • die im Rahmen des Sondervermögens aufgenommenen Kredite ebenfalls von der Schuldenregel ausgenommen werden.
  • den Ländern ein Verschuldungsspielraum bei der Aufstellung ihrer Haushalte eingeräumt werden.

Hervorzuheben ist, dass diese Kursbewegungen bisher ausschließlich auf einer Neube-wertung deutscher Aktien zurückzuführen sind. So konnten Aktien mit einem hohem Deutschland-Exposure ihr KGV von 14,9x zu Beginn des Jahres auf 18x ausweiten. Auch europäische Bau- und Infrastrukturaktien, die von dem Sondervermögen profitieren könnten, zeigten ähnliche Bewertungsausweitungen. Der DAX handelt seit den jüngsten Entwicklungen mit einem KGV von über 15x, deutlich über dem historischen Durchschnitt von 13,5x und dem europäischen Schnitt von 14,4x (Abbildung 1).

Abbildung 1: Deutsche Aktien - Entwicklung des KGV

Quelle: Unternehmensdaten
FactSet und Morgan Stanley Research; März 2025

Diskrepanz zwischen Kursentwicklung und Fundamentaldaten

Besonders auffällig ist die große Varianz im Re-Rating einzelner Aktien. Sie ist nicht immer mit dem Deutschland-Exposure oder mit den fundamentalen Auswirkungen des Sondervermögens in Einklang zu bringen.

Abbildung 2: Deutsche Infrastruktur Aktien - Ausweitung des KGVs sowie deren geographisches Umsatz-Exposure (%)

Quelle: Unternehmensdaten
FactSet und Morgan Stanley Research; März 2025

Ein Beispiel hierfür ist thyssenkrupp². Die Aktie verzeichnete seit Jahresbeginn einen Kursanstieg von über 160%, wodurch sich KGV auf über 12x ausgeweitet hat. Es gilt als der stärkste Anstieg im deutschen Indexuniversum seit Jahresstart (Abb. 2). Zwar dürfte das Unternehmen mittel- bis langfristig von einer erhöhten Nachfrage in den Bereichen Verteidigung und Infrastruktur profitieren, doch gleichzeitig steht thyssenkrupp vor einer gewaltigen Restrukturierungs- und Dekarbonisierungsära im europäischen Stahlsegment. Ein seit 14 Jahren anhaltender Cash-Abfluss führt dazu, dass dem Unternehmen in den Jahren 2025/2026 eine erhebliche Finanzierungslücke droht. Angesichts dieser Herausforderungen erscheint die jüngste Neubewertung in dieser Größenordnung – zumal weder eine fundamentale Ergebnisverbesserung absehbar ist, noch klar ist, wann Aktionäre durch beispielsweise Dividenden von besseren Gewinnentwicklungen im gesamten Konzern profitieren könnten – als fragwürdig. Ein ähnliches Bild zeigt sich bei Hochtief². Als deutsches Bauunternehmen in den Bereichen Energiewende und nachhaltige Infrastruktur wird Hochtief oft als potenzieller Profiteur des Sondervermögens betrachtet. Seit Jahresbeginn legte die Aktie um mehr als 40% zu. Allerdings erzielt Hochtief lediglich rund 3% seines Umsatzes und Gewinns in Deutschland. Dies wirft die Frage auf, inwieweit die Effekte der geplanten Investitionen tatsächlich die zukünftige Gewinnentwicklung bei Hochtief beeinflussen werden. Hinzu kommt die Unsicherheit darüber, wann diese Investitionen ergebniswirksam bei den Un-ternehmen ankommen – ein entscheidender Faktor, der bei der aktuellen Bewertungsausweitung bislang kaum reflektiert ist. Auch gilt es unseres Erachtens nach, den negativen Effekt gestiegener langfristiger Zinsen auf den Bau-Sektor zu berücksichtigen.

Abbildung 3: Potenzielle Profiteure des Sondervermögens – Eine zeitliche Einordnung

Quelle: Warburg Research
*Performance von Jahresbeginn bis Gesetzesverabschiedung am 18.03.2025²

Der offensichtlichste Nutznießer des Sondervermögens ist der Rüstungssektor. Aktien wie Rheinmetall², Renk² und Hensoldt² konnten sich in diesem Jahr bereits weit mehr als verdoppeln. Sollte Deutschland und auch andere europäische Länder ihre Verteidigungsausgaben in den kommenden 5 bis 10 Jahren auf 3 bis 3,5% des BIP erhöhen, entspräche dies zusätzlichen Verteidigungsausgaben von bis zu 985 Milliarden Euro. Gemäß unseren Schätzungen preisen die Kurse der Unternehmen derzeit schon ein Niveau von 3% ein, sodass der Markt bereits einen Großteil der zukünftigen signifikanten Ergebnissteigerungen vorwegnimmt. Zwar schaffen über Jahre strukturell gefüllte Auftragsbücher eine gewisse Sicherheit in der Gewinnentwicklung der Unternehmen, allerdings bleiben Produktionskapazitäten ein limitierender Faktor. Die erwähnten Unternehmen müssen die nächsten Jahre die Fertigungskapazitäten und damit auch den Personalstand gemäß unseren Berechnungen um 30-50% p.a. steigern, um die erwarteten Umsatzsteigerungen generieren zu können, was deutliche Exekutionsrisiken in sich birgt. Zudem bleibt noch ungeklärt, ob zukünftige Verteidigungsbudgets, wie in der Vergangenheit, weiterhin stark auf „traditionelle“ Produkte ausgerichtet werden oder ob es angesichts der veränderten geopolitischen Lage zu einem strategischen Wandel in der Mittelverteilung kommen wird.

Noch viele Unklarheiten über die Zusammensetzung und Verteilung des Infrastrukturpaketes

Mit der Verabschiedung des Infrastrukturpaketes schafft sich die deutsche Regierung einen deutlichen finanziellen Spielraum für Zukunftsinvestitionen. Experten rechnen damit, dass sich dieses zusammen mit den gesteigerten Rüstungsausgaben mit 0,4-0,6% positiv auf das deutsche Wirtschaftswachstum in den kommenden Jahren auswirken wird. Allerdings dürfte erst nach der Einführung der neuen Regierung und der Besetzung der entsprechenden Ministerien mehr Klarheit über die genaue Verteilung der Mittel auf einzelne Bereiche herrschen. Zudem wird es nach der Ausgestaltung entsprechender Ausschreibungen einige Zeit dauern, bis sich diese Investitionen in den Auftragsbüchern der Unternehmen niederschlagen.

Etwas optimistischer sind wir hinsichtlich des Anteils des Infrastrukturpakets, der den Ländern und Kommunen zur Verfügung gestellt wird, da diese Mittel im Rahmen von Instandhaltungsmaßnahmen schneller positive Effekte bei den Unternehmen entfalten könnten. Im Folgenden beleuchten wir daher gezielt einzelne Aktien, die entweder direkt oder durch Multiplikatoreffekte von den Infrastrukturausgaben profitieren könnten.

Rückenwind bei der Digitalisierung der IT-Infrastruktur und Software

Auch Secunet² könnte aufgrund seiner Geschäftspositionierung positive Effekte aus dem Sondervermögen erfahren. Die deutsche Bundesregierung und ihre Ministerien sind mit Abstand der größte Kundenkreis von Secunet, da das Unternehmen aktuell rund 90% seines Umsatzes im öffentlichen Sektor (und vor allem in der Bundeswehr und im Verteidigungsministerium) erzielt. Secunet konzentriert sich auf Cybersicherheit und hochsichere IT-Lösungen „Made in Germany“ – ein Bereich, der angesichts des aktuellen geopolitischen Umfelds und der gestiegenen Bedeutung von Cybersicherheit und Datensouveränität zunehmend an Relevanz gewinnt. In den vergangenen Jahren war die Unsicherheit über die Verteilung des Bundeshaushaltes ein wesentlicher Hemmschuh für das Geschäft von Secunet. Doch mit dem Regierungswechsel nach der jüngsten Bundestagswahl und der raschen Ankündigung des massiven Ausgabenprogramms könnten neue Auftragseingänge bei dem Unternehmen eingehen.

Die Aktie von Bechtle² konnte seit Jahresstart um 30% zulegen. Deutschlands führendes IT-Systemhaus verfügt sowohl über ein hohes Umsatz-Exposure zum öffentlichen Sektor (ca. 30-35% des Umsatzes) als auch zum deutschen Mittelstand, der zuletzt aufgrund erhöhter Unsicherheiten seine Investitionen in der IT-Hardware zurückschraubte. Der steigende Bedarf nach Digitalisierung der IT-Infrastruktur sowohl im öffentlichen Sektor als auch in der Privatindustrie bietet erhebliches Potential für strukturellen Rückenwind. Jedoch bleibt das Unternehmen mit seiner Guidance für 2025 vorsichtig und rechnet erst ab dem vierten Quartal mit einer spürbaren Verbesserung der Auftragssituation, die notwendig sein wird, um die aktuelle Guidance zu erreichen. Die Umsatzentwicklung im ersten Halbjahr bleibt schwer. Die Wiederbelebung der Investitionsbereitschaft im Mittelstand und Klarheit über Budgets im öffentlichen Sektor sind die beiden Hebel, die sich dann in einem Wendepunkt des Wachstums bei Bechtle niederschlagen könnten. Die Effekte für 2025 scheinen begrenzt, gleichwohl könnten aus unserer Sicht die kommunale Komponente des Infrastrukturpaketes und eine Stimmungsaufhellung im Mittelstand dem Unternehmen Rückenwind verschaffen.

Direkte Effekte in der Infrastruktur wohl erst mittelfristig aufgrund der begrenzten Geschwindigkeit der Umsetzung

Knorr-Bremse², Marktführer für Bremssysteme in der Schienen- und Nutzfahrzeugindustrie, dürfte langfristig von steigenden Infrastrukturausgaben profitieren. Allerdings sind die Investitionszyklen im öffentlichen Sektor langwierig: Analysten gehen davon aus, dass ein Großteil des Sondervermögens erst nach rund 12 Jahren vollständig abgerufen sein wird. Die Gründe für die langwierigen Prozesse sind vielschichtig. Durchschnittlich vergehen etwa 20 Jahre vom Planungsbeginn bis zur Inbetriebnahme von Neu- und Ausbauprojekten auf der Schiene – und der Großteil der Zeit entfällt auf die Planungs- und Genehmigungsverfahren. Besonders zeitintensiv ist das Planfeststellungsverfahren, das die meisten Infrastrukturprojekte durchlaufen müssen, bevor mit dem Bau begonnen werden kann. Im Bundesfernstraßenbau entfallen beispielsweise rund 85% der Gesamtdauer von 8 bis 11 Jahren auf die Planungsprozesse, während nur etwa 15% auf die Bauphase entfallen – in der die Unternehmen involviert sind.

Angesichts dieser langen Realisierungszeiten sind kurzfristige Effekte für Unternehmen wie Knorr-Bremse begrenzt. Das Unternehmen selbst rechnet im Jahr 2025 mit keinen positiven Auswirkungen aus den verabschiedeten Programmen, und auch 2026 dürften die Effekte noch überschaubar bleiben. Ein ähnliches Bild zeichnet sich derzeit auch bei anderen Industrieunternehmen wie Siemens² ab. Mittelfristig jedoch könnte sich ein spürbarer Nutzen aus den geplanten Investitionen ableiten lassen – vorausgesetzt, dass die Projekte zügig und ohne größere Verzögerungen umgesetzt werden.

Abbildung 4: Regelablauf im Bundesfernstraßenbau

Quelle: Wissenschaftliche Studie zum Thema „Bauherrenkompetenz in Abhängigkeit des Vergabemodells“; TU Braunschweig 2021

Multiplikatoreffekte in Industrie und Chemie sind schwer kalkulierbar

Jungheinrich² ist ein führender Hersteller von Gabelstaplern und zeichnet sich durch einen hohen Umsatzanteil von potenziellen Profiteuren des Infrastrukturpakets aus. Der direkte Effekt ist zwar limitiert, jedoch wird Jungheinrich von Marktteilnehmern als potenzieller Profiteur aufgrund eines sich verbessernden wirtschaftlichen Umfelds angesehen. Auch der Chemiesektor mit Unternehmen wie Lanxess² zählt zu den indirekten Profiteuren aufgrund eines sich aufhellenden makroökonomischen Gesamtbildes, nach Jahren der Nachfrageschwäche und hohen Energiepreisen. In welcher Größenordnung und zu welchem Zeitpunkt diese indirekten Effekte jedoch auftreten können, bleibt derzeit schwer prognostizierbar.

Fazit: Game Changer für deutsche Small Caps – selektiver Ansatz erforderlich, um Enttäuschungen zu vermeiden

Die verabschiedeten Finanzprogramme können zu Recht als Game Changer für die deutsche Wirtschaft bezeichnet werden. Deutschland nutzt damit seinen im Vergleich zu anderen europäischen Staaten größeren finanziellen Spielraum, um gezielt in zukünftige Wachstumspotenziale zu investieren. Dies dürfte das wirtschaftliche Wachstum mittelfristig deutlich beschleunigen und dazu beitragen, den Nimbus des „kranken Mannes“ in Europa endlich abzulegen.

Doch trotz dieser positiven Impulse bestehen, wie dargelegt, weiterhin erhebliche Unsicherheiten. Insbesondere die ressorttechnische und zeitliche Verteilung der Mittel – vor allem im Bereich der Infrastruktur – ist noch unklar. Viele Aktien haben bereits eine Neubewertung erfahren, die den Unternehmen erhebliche Vorschusslorbeeren einräumt. Diese Kursgewinne müssen jedoch künftig durch operative Ergebnisverbesserungen untermauert werden.

Für Anleger bedeutet dies, dass eine differenzierte Betrachtung erforderlich ist, denn nicht jede Kursrallye spiegelt auch ein nachhaltiges Gewinnpotenzial wider. Vor allem Zweitrundeneffekte sind schwer prognostizierbar und bergen Enttäuschungspotenzial. Dennoch sendet der fiskalische Vorstoß ein wichtiges Signal, um das zuletzt negative Sentiment gegenüber deutschen Aktien aufzubrechen und ausländische Investoren wieder für deutsche Nebenwerte zu gewinnen. Nach drei Jahren der Underperformance könnte damit der Knoten für deutsche Small- und Mid-Caps endlich geplatzt sein und der Grundstein für eine Rückkehr zu historischen Bewertungsniveaus gelegt werden.

Autoren

Strobl Andreas
Andreas Strobl
Portfoliomanager
Johanna Beeck
Portfoliomanagerin

Quellen

1) Performance Kalenderjahre

Quelle: Morningstar; stand 27.03.2025.

2) Performance Kalenderjahre

Quelle: Bloomberg; stand 27.03.2025.